1. Kapitel – Blumenknospe

Um der zehn Jahre meines Aufenthaltes und des Widerstandes des Cafés, Flor de Linz, in der Stadt Linz zu gedenken, möchte ich den immer wiederkehrenden Blumen des Gartens meines Lebens eine Erinnerung lassen. Etwas, das dieses Gefühl von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit dieses Lebens unter dem Mantel, oder zwischen des Zaunes, der Migration verkörpert.

Etwas, das unsere gemeinsame Komplizenschaft und unsere Erfahrungen, Geheimnisse beschützt und vor allem unser Schweigen, wenn die Wörter schon nicht mehr zwischen uns passen. Ich habe ein wenig gegrübelt, eine passende Form angepasst an meine wirtschaftliche Realität zu finden, und die zur gleichen Zeit der Geschichte des Flor de Linz gerecht werden könnte. Da ich nicht sicher war, was ich machen soll, bin ich von einem der Motive ausgegangen, weswegen auch die Menschen so häufig in mein Café kommen: um gehört zu werden.

In Zeiten der virtuellen Präsenz, das Echte als solches von jemandem zu hören, ist wahrhaftig eine seltene und sehr geschätzte Fähigkeit. Zuhören soll nicht heißen, einen unsichtbaren Kopfhörer aufzusetzen und die andere Person ihre Schmerzen ablegen zu lassen ohne Sicherheitsgurt und Bremse.

Zuhören ist sich geräuschlos verbinden mit der Person, die in verschiedenen Formen Aufmerksamkeit einfordert. Es kann sich um ein vertrauensvolles Gespräch handeln, um die Gedanken zu ordnen, eine Form des sich Erleichterns durch den Mund, als ob man etwas Verdorbenes gegessen hätte.

Bei Beendigung des Gespräches hat sie das Gefühl, erleichtert zu sein. Und jener, der zuhört, leistet einen grundlegenden engelhaften Dienst, indem er im richtigen Moment am richtigen Ort ist.

Mir gefällt die Idee eines Kurses des Zuhörens von Rubens Alves. Diese Kunst sollte weiter gepflegt werden. Kurse der Redekunst haben wir schon im Überfluss. Ich habe nicht die Absicht in die Demagogie der Bescheidenheit abzufallen, denn ich weiß, dass ich sehr gut zuhören kann, da ich mit dem Herzen zuhöre. Dies mag unter Umständen melodramatisch wirken, aber der der erzählt, weiß und fühlt, wer mit dem Herzen zuhört. Es ist nicht umsonst, dass das Café, mein Haus, immer voll ist.

Daher, um zu hören was meine Kundschaft, Kolleginnen und Freundinne von den Plänen des Gedenkens an die 10 Jahre des Flors halten, habe ich ein Treffen namens „Café mit Erinnerung“ im Garten des Café de Flor organisiert. Während des Treffens fühlte ich mich wie im Frühling, als sie eintrafen und Sympathien und Eitelkeiten austauschten. Ich machte eine musikalische Auswahl, die nur Themen der Migration betraf. Und in der Hitze ihrer Gelächter, fühlte ich als ob wir im Sommer an der Küste wären. Die Blumen bewegten ihre Blüten mit viel Intensität, es schien, als ob sie den Herbst grüßen würden. Als die Musik aufhörte, erinnerte mich jene Stille an den Winter! Ah! Wie schön auf einem Foto und aus dem Fenster heraus.

Der Anblick des Schneesterns, wenn er am Boden oder auf den Scheiben der Autos liegt, aber auch auf den Fenstern, ist faszinierend. Die Dächer scheinen mit Puderzucker bedeckt zu sein. Der Stille zuzuhören, dem Schnee beim Fallen zu zusehen, ist sehr entspannend. Für jene, die in den Bergen wohnen, gibt es keinen Hunger nach Schnee. Aber hier in der Stadt fallen nur quasi geschmolzene Reste, die lediglich ein schlammiges Gelände erzeugen. Selbst dann werden wir, Bewunderer dieses Spektakels, belohnt für das, was uns die Natur gibt. Es ist der Winter der uns von außen vor Kälte und von innen vor Wärme brennen lässt.

Der Nachmittag vom „Café der Erinnerung“ war überaus erfreulich, mit vielen Momenten der Sehnsucht – jenes wunderbare Gefühl, zu einem Lied zu tanzen, das uns an unvergessliche Momente und Orte zurückbringt.

Nach Beendigung des Treffens war die Entscheidung gefällt: für die 10 Jahre in denen es das Flor gibt, musste dieses Buches geschrieben werden. Es gibt vieles von Verhaftung und Befreiung in den Gedanken, und da diese nicht mehr in mir Platz haben, entschied ich mich ihnen Flügel aus Papier zu verleihen.

Ich wählte das Estrelário – den Garten des Flor de Linz – für das Treffen, da er immer gut besucht ist, ob der Abend schön ist oder nicht.

Dorthin kam, wer die Ruhe hören wollte, den Regen, den Schnee. Ich, an jenem Tag, wollte die Sehnsucht hören!

An der Wand des Gartens steht ein Auszug des Liedes Estrela von Gilberto Gil, der folgendermaßen lautet: jedes Mal erscheint ein Stern am Himmel, wenn du lächelst. Jedes Mal erlischt ein Stern am Himmel, wenn du weinst!

Da die Beleuchtung auf die Mauer gerichtet ist, kann man den Auszug des Liedes bis in die Nacht lesen. Es gibt keine Person, die jene Wörter im Estrelário nicht kommentiert. Oder die sie nicht bewundert. Letztendlich hat jeder einen Stern am Himmel in seinem Leben.

An diesem wunderbaren Ort entledigt sich der Zweifel und der Körper muss nicht in einer Abwehrhaltung verbleiben. Es ist nicht einmal notwendig, Ruhe zeigen zu wollen, wenn der Geist hungrig ist. Die Fahnen seichten Glücks sind auf Halbmast gesetzt. Wir verfügen über Munition in Form von Taschentüchern um die Produktion von flüssigen Empfindungen zu handhaben, und Tee mit Geschmack von Honig, um die Maschinerie zu befeuern und sie gleichzeitig nicht zu überladen.

Im Flor ist der Gebrauch von Mobiltelefonen verboten. Wer telefonieren möchte, der muss auf den Balkon gehen, das Festnetztelefon verwenden und so ein paar Münzen für die monatliche Rechnung zurücklassen.

Ich habe den Überblick verloren über die vielen Blicke, Unterhaltungen, Drinks und Flüssigkeiten, die ausgetauscht wurden, dank der Politik des Zusammenlebens von Menschen, anstelle von virtuellen Profilen, die hier zusammenkommen.

Gibt es eine aufregendere Atmosphäre, als wenn Menschen zusammenkommen, sich berühren, sich küssen und einfach Mensch sind? Wenn Menschen glücklich sind, wenn sie zusammen sind, scheint es, als ob sie eine Aura umgibt. Das Einzige, das vergeht, sind die Stunden, der Rest bleibt stehen. Aus diesem Grund habe ich einen kleinen Knopf auf den Tischen angebracht, wenn Sie etwas bestellen möchten, dann drücken Sie dort. Ich habe schon angemerkt, dass niemand Zeit für Fotos hat oder virtuelle Profile hat, wenn die Freude am Zusammensein mit jemandem größer ist als die Eitelkeit. Wenn Zeit für solche Posen vorhanden ist, dann, weil die Langeweile überwiegt.

In meinem Café möchte ich reale und surreale Kontakte. Letzten Endes, wenn jemand nicht mit Menschen zu tun haben möchte, dann soll er lieber in den Zoo gehen. Menschen Aufmerksamkeit zu widmen, ist eine Bedingung, die uns letztlich erst zu Menschen macht.

Furchtbar ist diese moderne Vorstellung überall und immer verfügbar zu sein. Es scheint mehr nach einem Hilferuf, weil man die eigene herzlose Gegenwart nicht erträgt. Deswegen wird das Estrelário wie Wasser in der Wüste verteidigt! In diesen unerträglichen Momenten, in denen man wahrnimmt, wer man ist, kommt einem ein Sternenhimmel gerade richtig.

Ich steige nicht auf ein Podest, um eine Rede zu halten, dass eine Person dies oder jenes machen muss, dass man glücklich sein muss, dass man dort oder irgendwie sein muss. Von mir aus muss sie gar nichts.

Aber ich applaudiere jedem stark, der in Tränen ausbricht. Sich anstecken zu lassen beruhigt die Seele. Es ist wie Pinkeln. Wenn es draußen ist, bringt es Erleichterung. Wenn es lange drinnen bleibt, kann es zu einer Infektion führen. Vielleicht gibt es aus diesem Grund so viele Menschen, die in ihrer Seele infiziert sind. Auf jeden Fall spreche ich mich dafür aus, dass dem Ausdruck von Gefühlen Platz gegeben wird.

Hauptsächlich und vor allem für Ausdrücke, die aus Muskeln der Freude entstehen.

Das Flor de Linz ist Treffpunkt vieler Ankünfte und Abreisen. Täglich gibt es Koffer voll von Erinnerungen, geladen voller Hoffnungen und Ansammlungen von Wünschen, dass alles gut gehen wird.

Im Leben einer Migrantin ist die Rückkehr ein Begleiter ab dem Moment, in dem man aufbricht: ob dies nun aufgrund der Gewissheit, eines Tages zurückzukehren, ist oder aus Angst, dass dies geschehen wird oder eben doch nicht. Wir sind ein transitives und verbindendes Verb. Sind wir einmal hier, möchten wir dort sein, sind wir einmal dort, möchten wir hier sein. In diesem Hin- und Her von Empfindungen und Gefühlen, manchmal bei Ebbe, manchmal bei Flut, schreiten wir voran.

Und in diesem Meer der Ungewissheiten stelle ich mir vor, was wäre, wenn der Verstand das Herz fragen würde:

  • Bis zu welchem Hafen lohnt es sich die Reise weiterzuführen?

  • Keine Ahnung. Manchmal muss man einen ganzen Ozean überqueren, um zu finden, was man sucht. Auch wenn man nur geht um wieder zurückkehren zu wollen. Oder weil man geht, um die Gewissheit zu haben, bleiben zu wollen. Oder um weitersegeln zu wollen.

In den Migrationsströmen gibt es jene, die ihr Leben damit verbringen irgendwo anlegen zu wollen, die aber keinen sicheren Hafen finden.

Es gibt jene, die Windstille in einem Hafen finden und dortbleiben.

Es gibt aber auch jene, die konstant auf hoher See bleiben müssen.

Bis zu welchem Hafen? Keine Ahnung. Man muss ausprobieren. Lass uns nach Porto Alegre, nach Porto Seguro, nach Porto Belo, nach Porto de Galinhas, nach Porto Velho, nach Porto Franco, nach Porto, nach Portugal gehen!

  • Du hast immer Recht. Lass uns gehen, Herz!

Daher, um die Reise zu beginnen, erinnern wir uns an Fernandíssimo Pessoa, denn Segeln ist notwendig! Nur, dass es alleine nicht nur wichtig ist zu navigieren. Folglich, ergötzen wir uns an diesem Meer an kostbaren, essbaren und berauschenden Blumen, die uns die Migration bringt.

#FlordeLinz

Bild: Larm Rmah

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